Unser politischer Geschäftsführer, Niklas Graf, hat einen weiteren Gastbeitrag veröffentlicht. Neben seinen bisherigen Veröffentlichungen schreibt er nun in einer Kolumne über Europa und den Brexit. Online ist der Beitrag bei der ak[due]ll in Ausgabe 215 von März 2019 zu finden.
Der Brexit bedroht die europäischen Austauschprogramme und deren Fortsetzung mit dem Vereinigten Königreich. Für die Europäische Union sind sie allerdings ein entscheidender Baustein für die Europäische Verständigung und sollten weiter ausgebaut werden.
„Wie viele Menschen hat dein Großvater eigentlich im Zweiten Weltkrieg getötet?“ Die Frage hatte ich mir bis zu diesem einen Tag in New Mexico zwar noch nicht gestellt, aber plötzlich brachte sie mein Weltbild ins Wanken. Beide Großväter waren eigentlich noch zu jung gewesen, um eingezogen zu werden, aber die Kinderlandverschickung hatten sie schon miterlebt.Die selbst erdachten Bilder von meinem Opa Fritz, wie er aus dem heutigen Polen mit ein paar anderen heruntergehungerten Jungen durch die Wälder streifte, um zurück nach Lohberg zu kommen, kamen wieder hoch. Sie hatten sich durchgeschlagen, von den Resten der Panzerzüge gelebt, auf Bauernhöfen gearbeitet und auch mal geklaut, um zu überleben. Aber hatten sie auch getötet? Für einen kurzen Moment war ich mir unsicher. Meine zerrütteten Emotionen überspielend bekam mein High School Freund eine eher ruppige Antwort: „Come on, man. Shut the fuck up!“ Wir wechselten das Thema.
Zum ersten Mal bereute ich auch außerhalb Deutschlands, Deutscher zu sein. Meinen Lehrer* innen und meiner Familie sei Dank hatte ich die Erblast immer ohne Zweifel an unserer historischen Verantwortung angenommen und den Einsatz für eine friedliche Welt als wichtige Aufgabe verstanden. Als ich dann allerdings einige Wochen später von einem anderen Freund ganz unverfroren und ernsthaft interessiert gefragt wurde, ob ich Hitler vermissen würde und noch einmal später, ob die Mauer noch stehen würde, da war mir zwar klar, dass dies auch mit einer Schräglage im US-amerikanischen Bildungsniveau zu tun haben musste, aber antworten konnte ich wieder nur mit Floskeln und Slang-Begriffen. Bis heute bin ich fassungslos, doch die Vereinten Nationen und das Friedensprojekt der Europäischen Union geben mir Beruhigung und Hoffnung.
Ich war froh, mehr zu sein als nur deutsch. Ich bin Europäer. Zum ersten Mal machte ich mir Gedanken darüber, wie viel Franzose, Tscheche, Pole und Holländer ich bin. Ein Wissen, das viele US-Bürger*innen aus dem Effeff beherrschen und herunterbeten können. Ein Viertel das, ein Achtel das, zur Hälfte dies und so weiter. Ein Gedankengang, der mir bis dahin fern gewesen war und mir auch heute noch fremd ist.
Damals musste ich aber Zuhause nachfragen. Bin ich nur deutsch? Ich wollte sicher sein, nicht nur „biodeutsch“ sein zu müssen. Und ich hatte das Gefühl, dass ich diesem unsäglichen Blut- und Schubladendenken, das heute auch ein Grund für die Chancen der Alt-Right-Bewegung ist, irgendwas entgegen setzen zu müssen. Als die E-Mail ein paar Tage später von Zuhause kam, war ich erleichtert. Meine Mutter konnte mich beruhigen. Wir sind eine multinationale Familie. Was für eine Erleichterung. Ab diesem Zeitpunkt antwortete ich auf die Frage „Where are you from?“ mit „From Europe!“, und wenn ab und zu mal weitergefragt wurde, konnte ich ergänzen: „from all around there, but I was born in Duisburg and raised in Dinslaken. Two cities alongside the Rhine.“
Multinationale Identität
Mit dem Schüler*innenaustausch nach Neuville- en-Ferrain in der neunten Klasse, im Bachelor in Straßburg oder bei meinem Masterpflichtpraktikum in Brüssel konnte ich dann zurückblickend wirklich lernen, was es heißt, Europäer*in zu sein. Durch das wirkliche Leben miteinander kommen die Nähe und die Zuneigung, füreinander Interesse zu haben, sich anzulächeln, übereinander zu freuen und zu feiern. Sich als größere Gemeinschaft zu fühlen war dabei eines der größten Geschenke, die ich in meiner Ausbildungszeit erhalten habe. Und immer wenn ich ging, blieben die Selbstverständlichkeit und das Fürsorgebedürfnis für die Mitmenschen, die ich kennengelernt hatte. Die europäischen Regionen und Perspektiven durch Reisen mit Familie und Freund*innen zu erleben und kennenzulernen gehört zwar auch dazu, aber nur durch das wirkliche Wohnen an einem anderen Ort, und mit den anderen Sprachen, wird noch stärker erlebt, was es heißt Teil von einer größeren Gemeinschaft zu sein. Es manifestieren sich der Wunsch nach einer „Ever Closer Union“ und vielleicht sogar die Vision eines Weltbürger*innentums. So können wir uns viel sicherer gegen den Einfluss europafeindlicher Interessen wehren und uns historisch verblendeter Propaganda mit eigenen Erfahrungen entgegenstellen.
Erasmus im Brexit
Der Brexit stellt den modernen Menschen und die europäische Aufklärungsgeschichte vor die Frage, ob wir den nächsten gesellschaftlichen Entwicklungsschritt gehen oder in archaische und teilweise schon überwunden geglaubte Zivilisationsmuster zurückfallen. Gegeneinander denken, individuell rational handeln, Kapital sichern und erst Zäune, dann Grenzen in den Köpfen wieder hochziehen und Mauern in die Landschaft bauen. Ob Mexiko, Irland oder Frontex, jede Grenze ist eine zu viel. Ob in der Schule, in der Ausbildung, im Studium, auf der Arbeit oder in der Freizeit, jede nicht genutzte und staatlich nicht ermöglichte Chance auf einen Lebensabschnitt in unseren Nachbarländern, ist eine zu wenig.
2018 gingen von 2,8 Millionen Studierenden in Deutschland nur knapp 40.000 ins Ausland. Etwa 90.000 der Studierenden kommen aus dem EU-Ausland zu uns. Aber nur wenn wir akademischen und beruflichen Austausch fördern und diesen in Schulen und in Ausbildungen vermehrt obligatorisch machen, werden wir in Zukunft Europa sichern.