Parteimitgliederkrise als deutsche Systemfrage

Seit den 1980er Jahren und dem Erstarken der Parteienkritik in der Bundesrepublik Deutschland, welche insbesondere durch die Selbstinszenierung der Grünen als „Anti-Parteien-Partei“ befördert wurde, hat sich die Tendenz in der Bevölkerung zur Abkehr von ehrenamtlichem politischem Engagement und der Abnahme von individuellem Einsatz in Parteien kontinuierlich fortgesetzt. Zeitlich versetzt verlieren die etablierten Parteien im anwachsenden Mehrparteiensystem, teilweise begünstigt durch den demografischen Wandel, weiterhin eingetragene Mitglieder und Stammwähler*innenschaft. Seit der Wende und dem temporären Anstieg durch Zusammenschlüsse von Ost- und West-Parteien haben allein die sogenannten Volksparteien bis 2014 rund 42% (CDU) und 51% (SPD) ihrer Mitglieder verloren. Neue Parteien versuchen in konjunkturellen Zyklen die Angebotslücken und Attraktivitätsdefizite der regierungsverantwortlichen Player auszugleichen und aufzufangen. Es gelang jedoch in den letzten Jahrzehnten bisher keinem durch demokratische Unzufriedenheit begünstigtem Emporkömmling die Protestwähler*innenwanderschaft an einem neuen sicheren Parteihafen andocken zu lassen.

Im Kontext sinkender Wahlbeteiligung, und angesichts von Politik-, Politiker*innen-, Parteien- und Staatsverdrossenheit wird die Legitimitätsfrage dem politischen Regime von Wutbürger*innen in der Vertrauenskrise mit ohrenbetäubender Eindringlichkeit erneut gestellt. Sollte es durch Polarisierung, Personalisierung und Emotionalisierung von zukünftigen Wahlkämpfen gelingen wieder mehr Menschen an die Urne zu locken, wäre das zugrundliegende Problem jedoch weiterhin ungelöst. Die Systemfrage stellt sich durch eine Entwicklung in der politischen Kultur, welche sich von ihrem zusammenhaltenden Rahmen, ihren demokratischen Normen, Werten, Pflichten und Institutionen abwendet, ihre Systemmitglieder nicht mehr ausreichend für ihren Erhalt eintreten und das persönliche politische Engagement dem jeweils anderen überlassen wird.

Nach Aristoteles ist die Demokratie eine entartete Form der Politie. Polybios nennt diese auch Ochlokratie oder umgangssprachlich die Pöbelherrschaft. Vor dieser haben wir uns durch ein repräsentatives Politikregime in dem Maße ausreichend geschützt, dass neben den Forderungen nach mehr Transparenz, weniger Hinterzimmerpolitik oder einer Abneigung gegenüber dem arkanen Politikbereich, die Abneigung beim Wahlvolk, gestützt durch Satire, Skandale und beschleunigende Digitalisierung, dazu führt, dass der Protest auch in westlichen Demokratien zentraler Bestandteil geworden ist. Nicht die politische Teilhabe, konstruktive Diskussionen und Beiträge im gesellschaftlichen Diskurs, die Ideeneinbringung in Parteien, die Antragsstellung gegenüber Parteiprogrammen oder Leitanträgen, sondern der Protest, die Kritik, der Widerstand und der manchmal vermeintlich unvermeidlich notwendige zivile Ungehorsam von rechter, linker oder autonomer Seite behalten in jeder Dekade stets ihre perspektivisch stringente Begründung gegenüber eines Systems, welches es immer wieder auf ein Neues nicht schafft eine Mehrzahl ihrer Antagonist*innen zu inkorporieren.

Die Diversifizierung der Arbeitszeit und dadurch seltener gleichzeitig frei einzuteilende Zeit für das Staatsvolk, das Konkurrenz- und Wettbewerbsmodell der Marktwirtschaft, aber auch die angestrebten Ideale von Selbstverwirklichung und die biografisch-individuellen Anforderungen des sozialen Umfelds von Familien und Freund*innen in der Konsumgesellschaft lassen demgegenüber immer weniger Raum für echte politische Teilhabe und engen ihn zunehmend ein.

Vermehrte und berechtigte Forderung nach mehr aktiver Partizipation und dessen Ermöglichung werden nahezu nie gesamtgesellschaftlich mit einer überzeugenden Werbung für ein individuelles bürgerliches Engagement im bestehenden Parteienspektrum beworben. Neue Parteien werden, machtrational nachvollziehbar, stets angefeindet und möglichst schnell eliminiert. Statt eine gelingende Werbekampagne für das bestehende Angebot zu führen, entzweit sich die politische Elite bei der Partizipationsfrage, der Komplexität ebenso unangemessen, fast ausschließlich zwischen Befürwortern von direkter Demokratie auf Bundes- oder Landesebene und deren Kritiker*innen, welche die Auswirkungen eines gesellschaftlich nicht weit genug reichenden Bildungssystems, mangelnder Aufklärung und fehlender konstanter Weiterbildung sowie selektiver politischer Information anprangern.

Nach manchen Forderungen seien mit mehr direkter Demokratie ein Teil der Bevölkerung und ihr politisches Interesse für das System zurückzugewinnen. Funktionär*innen, Wissenschaftler*innen und Machtmakler*innen argumentieren dagegen risikoavers mit erheblichen Ungleichgewichten in der Wissens- und Informationsallokation von politischen Sachverhalten bei einer überdimensional großen Anzahl an Entscheidungsträger*innen, den Unsicherheiten und Irrationalitäten in Mediendemokratien und der nahezu unmöglichen Reduktion von komplexen Sachverhalten auf abstimmungsfähige Antwortkategorien für Urnengänge. Rein kommunalpolitische Vorschläge für regelmäßige Bürger*innenentscheide beispielsweise bei lokalen Investitionsentscheidungen, welche das Interesse und den Austausch in und über die eigene Nachbarschaft vor Ort stärken könnten, bleiben zumeist ungehört. Digital-unterstützte Verfahrensoptimierungen zur Entscheidungsfindung auf kommunaler Politikebene würden allerdings die breiten Rekrutierungslücken, insbesondere in den unteren Ebenen unseres politisch-administrativen Mehrebenensystems, nur anteilig kompensieren oder deren negative Entwicklung umkehren können. Auch wenn den weniger als eine Millionen Menschen in Parteien in Deutschland noch zahlreiche an Bedeutung gewinnende NGOs zur Seite stehen, bleibt das mangelnde ehrenamtliche politische Engagement die Keimzelle für ein krankes und geschwächtes politisches Regime.

Reichen neue und ergänzende Instrumente zur politischen Teilhabe aus, um einen „turnaround“ in der gesellschaftlichen Akzeptanz unseres politischen Systems und eine generelle Änderung in der aktuellen politischen Kultur in den verschiedenen Milieus zu erreichen? Wahrscheinlich nicht. Aber sie sind Teil einer Lösung, welche dringender Umsetzung bedarf, um nicht noch mehr Befürworter*innen des Systems zu verlieren. Menschen die vielbeschäftigt in abgeschlossenen ökonomischen, familiären oder sozialen Kreisen leben, können nicht aktiver Teil eines politisch-administrativen Systems sein. Mehr Freiräume für Bürger*innen sind notwendig, um durch neue Zeitkontingente die Aufmerksamkeit und das Interesse für bereits vorhandene und neu zu schaffende demokratische Angebote zurückzugewinnen. Die Legitimation des politischen Regimes sollte nicht in Frage gestellt werden können, wenn man an stabilen politischen Verhältnissen interessiert ist. Die Mitgliederkrise der Parteien ist nur ein Indikator für eine Legitimitätskrise, aber die Systemkonstruktion unserer Gesellschaft baut auf breite, permanente, faire und ehrliche Partizipation.

Dieser Debattenbeitrag ist am 16.07.2018 im „hammelsprung – Magazin für politische Entscheidungen“ erschienen.

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