Die aktuellen Diskussionen um den Rückgang und das mögliche Verschwinden der Volksparteien und das Erstarken der extremen Ränder sowie diverser ökologischer, linker und rechter Protestbewegungen spiegeln vielfältige Unzufriedenheitsformen in der Bevölkerung wider. Im Kern der verschiedenen Selbstverständnisse dieser heterogenen Protestlandschaft steht dabei die Überzeugung, dass es den politisch handelnden Akteur*innen in den verschiedenen deutschen, europäischen und globalen Machtzentren nicht mehr zugetraut wird den multiplen Anforderungen an sie gerecht zu werden.
Dabei schwanken die möglichen Erklärungen und Begründungen zwischen mangelnder Kommunikation bei erfolgreichen Policy-Outputs, misslungenem und misslingendem Outcome-Management, einem vermehrten Aufkommen von scheinbar unlösbaren Problemschleifen, tatsächlich unintendierten Fehlentscheidungen und Fehlverhalten als auch bewusstem Machtmissbrauch und der Bevorzugung von organisations- und einflussfähigen Partikularinteressen. Das politische Handeln in den verschiedenen institutionellen Konfigurationen hat sich zwar fortschreitend professionalisiert, aber die steigende zivilgesellschaftliche und interessengeleitete Kontrolle sowie die Spiegelung durch das breite öffentliche Publikum ermöglicht es nahezu jeder Kommunikationsgruppe aus eigener Perspektive offensichtliche Fehler zu identifizieren und nährt den Boden für Entparlamentarisierungstendenzen.
Die klassische parlamentarische Arena befindet in sich einer pfadähnlichen Abhängigkeit von fortschreitender Anfeindung und gegenseitigen Missbilligungen. Konsensuale Entscheidungen beispielsweise auf Ebene der Fachausschüsse – in Koalitionsdemokratie und verhandelnder Wettbewerbsdemokratie – werden im Großteil der Fälle nicht an die Öffentlichkeit kommuniziert. Stattdessen werden selbst Übereinkünfte und KooperationspartnerInnen gegenseitig öffentlich nach den Mechanismen medialer Aufmerksamkeitsgenerierung denunziert. Obwohl nahezu alle etablierten Parteien in jeglichen Koalitionsformen bereits bewiesen haben zusammenarbeiten und Kompromisse finden zu können, erzeugen sie immer wieder ein Bild gesellschaftlich mehrheitlich befürwortete Zielsetzungen aufgrund von Parteidifferenzen oder Uneinigkeit politischer Führungskräfte nicht umsetzen zu können. Machterhalt, Koalitionszwänge und Wahlkampfstrategien bestimmen die Diskussionen in den Hauptstädten und lassen viele gesellschaftliche Teilgruppen immer wieder aufs Neue hoffen und verzweifeln. Dabei häufen sich seit Jahrzehnten die Geschichten von politischem Versagen auf allen Ebenen des politisch-administrativem Systems, welche Individuen in ihre Kommunikationsnetzwerke weitertragen können. Es wiederholt und verfestigt sich ein Gefühl von Enttäuschung, welches nicht zu einem Engagement in der theoretisch nächsten Partei, sondern vermehrt in die Abkehr vom gesamten Parteiensystem mündet. Zusätzlich wird diese Entwicklung von diversen Akteur*innen der öffentlichen Arena befeuert. Die traditionellen Medienformate verlieren durch die sozialen Netzwerke, Blocks und unabhängige, individuelle und zum Teil einseitige Berichterstattungen zunehmend den Einfluss auf die Verteilung von Informationen und damit auch die Generierung von gemeinsamen Wahrheiten. Was bleibt ist nicht was die Menschen gemeinsam mitbekommen und gemeinsam übereinstimmend denken, sondern was sie übereinstimmend fühlen.
Die Menschen spüren die Inkompatibilität der Handlungslogiken der verschiedenen politischen Arenen. Sie erleben ebenso, dass was sich in der einen Arena als Erfolgsrezept herausbildet, schädlich für die Entscheidungsfindung in einer anderen Arena sein kann. Sie sehen wie sich die politischen Akteur*innen zwischen verschiedenen Zwängen von Sach- und Machtfragen zerreißen. Sie können überwiegend nachvollziehen, warum legislative Prozesse Zeit kosten und rechtliche Einschränkungen Rahmen setzen. Aber sie haben, auch aufgrund vermehrter Transparenz und zunehmendem Aufklärungsniveau, immer weniger Akzeptanz dafür, dass Lobby- und Wirtschaftsinteressen den kollektiven und langfristigen Nutzen der Gemeinschaft minimieren. Ein koordinativer Diskurs wird zunehmend erschwert. Der Raum für weitreichende Politik auf der Hinterbühne wird immer kleiner, der politische Arkanbereich schwindet und die Kritik an symbolischer Politik auf der Vorderbühne wird größer. Die Darstellungspolitik wird für die politische Elite zunehmend komplexer und es werden bessere und tragfähigere Begründungen und Gesetze in kürzeren Abständen eingefordert. Dabei geht es aber vermehrt nicht um die Reklamation eigener politischer Erfolge, sondern um das Finden gesellschaftlich tragfähiger Übereinkünfte im Allgemeinen und die Kommunikation der Teilerfolge. Dies geschieht vor der Tatsache, dass WählerInnenmarkt und Koalitionsmarkt zunehmend nicht mehr zueinander passen. Zweierkoalitionen werden, durchaus gewollt von der WählerInnenschaft, zunehmend unwahrscheinlicher. Damit wird der Wunsch ausgedrückt die diversen Richtungen des breiten Spektrums politischer Meinungen und ideologischer Ausrichtungen zusammenzuführen. Es ist daher die Pflicht der parlamentarisch möglichen Mehrheiten zu regieren, zusammenzuarbeiten, alte unnötig aufgebaute Hürden zu überwinden und auch gemeinsam aufzutreten. Man darf die wandernde Wähler*innengunst nicht als Abkehr von einem einigen Deutschland oder Bundesland missinterpretieren, sondern muss sie als Vorgabe an die Parteien und Fraktionen verstehen. Mit weniger Konflikten, weniger Profilierung und weniger Voranstellung des eigenen Machterhalts, soll durch mehr Kompromisse und Rationalität politische Handlungsfähigkeit bewiesen werden. Das würde die gewünschte Aufmerksamkeit für die gesellschaftlich relevanten Themen generieren, von unsäglichen Nebenschauplätzen zurückführen, und damit eine echte Machtprämie für die Regierungsverantwortlichen sein. Deutungskämpfe und Hegemonien in der Darstellungspolitik würden auf eine andere kommunikative Art geführt und es gäbe eine breitere Zustimmung der Bevölkerung bei der Auseinandersetzung mit Sachfragen, weil die Menschen auf ein Kompromissinteresse der zuständigen Ressorts und Entscheidungen im Sinne der diversen gesellschaftlichen Gruppen vertrauen könnten. Es gäbe keine Angst von „der Politik“ vergessen zu werden.
In einer Koalition sind die Kontrolle der Handlungsressourcen und die Ziele jeweils separat bei den KoalitionärInnen. Es gibt nur wenige kollektive Ziele und kollektive Handlungsressourcen. Dieser Widerspruch zur gesellschaftlichen Wunschvorstellung des Zusammenlebens und Arbeitens kann nicht vollkommen aufgehoben werden, aber die parteipolitischen Zielsetzungen brauchen ein Übergewicht bei gemeinsamen Zielformulierungen über die Parteigrenzen hinweg. Das wäre möglich, wenn das gemeinsame Verständnis von Verantwortung und Gesinnung in den Vordergrund öffentlicher Debatten und inhaltlicher Diskussionen gestellt würde und die Erkenntnis reifen würde, dass Stimmenmaximierung auch ohne Profilierung, Kampf und ein erbittertes Gegeneinander möglich sind. Dadurch könnte ein neuer Ausgleich zwischen Hierarchie und Kooperation in Koalitionen gefunden werden und der polarisierte Parteienwettbewerb in seiner zunehmenden Enthemmtheit eingedämmt werden. Das aktuelle systemdelegitimierende Moment ließe sich abschwächen. Dauerhaftes Wahlkampfverhalten und Demobilisierungsspiele würden seltener, die Wähler*innenmobilisierung der Mitte würde nicht weiter abnehmen und die Protestwähler*innenwanderschaft würde kleiner werden. Die Gewährleistung von Koalitionsoptionen und das Kalkül von Koalitionstreue und -optionen werden weiter Bestandteil einer jeden Wahlkampagne oder Vorfelddiskussion sein, aber sie sollten nicht zum Hauptargument für politische Verantwortungsübernahme werden. Die politische Elite muss erkennen, dass sie die Fortexistenz dieses Systems durch die eigene Zurückstellung verteidigen muss.
Dieser Debattenbeitrag ist am 08.10.2018 im „hammelsprung – Magazin für politische Entscheidungen“ erschienen.
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