Die Informations- und Wissensvermittlungskultur in Deutschland steht unter keinen guten Vorzeichen. Neben den neueren Debatten über Informationskriege, Soft Power-Strategien gegen das demokratische Regime, alternative und wissenschaftsferne Fakten und Fake News sind erhebliche Angebotsdefizite von öffentlicher Seite für die individuelle Informationsbeschaffung der Gesellschaft zu verzeichnen.
Die nationale Informationskrise besteht insbesondere darin, dass vorhandenes Wissen nicht abgerufen und genutzt wird, als auch darin, dass diese, wie etwa bei den öffentlich-rechtlichen Medienangeboten, nur zeitlich begrenzt abrufbar sind und die generelle Aufbereitung von staatlicher Seite nicht mit den technischen Möglichkeiten und privatwirtschaftlich konkurrierenden Marktangeboten Schritt hält. Aber auch von Seiten der wissenschaftlichen Community bestehen immer wieder große Hürden: Sowohl für außeruniversitär Interessierte als auch für akademisch Involvierte, beim Zugang zu zentralen, historisch wertvollen oder neuerschienenen wissenschaftlichen Publikationen, Fachbeiträgen oder Monographien, solange monetäre Barrieren nicht kompensierbar sind. Utopien, wie sie beispielsweise im Guerilla Open Access Manifesto von Aaron Swartz anklingen, sind aufgrund der marktwirtschaftlichen Hegemonie Lichtjahre von einer Umsetzung entfernt.
Gerade rechtliche Normsetzungen erscheinen dabei aus mancher Perspektive widersprüchlich und lassen auch das vermehrte Nicht-Nutzen rechtlicher Möglichkeiten durch die Zivilgesellschaft als Demokratiedefizit erscheinen. Ein vermeintlicher Widerspruch lässt sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Informationsfreiheitsgesetz (IFG) und dem Rundfunkstaatsvertrag ableiten. Das IFG regelt den Zugang zu Informationen des Bundes und die Auskunftspflicht von Bundesbehörden. Bedauerlicherweise hat diese transparente und weitsichtige Rechtsauffassung dieses Gesetzes, auch wenn aufgrund ihres Regelungsbereiches verständlich, keinen Einfluss auf die Bereitstellung der gebührenfinanzierten Informationsakkumulation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Stattdessen hat der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag, welcher seit dem 01.06.2009 in Kraft ist, die Aufbereitung, zur Verfügung Stellung und die Zulässigkeit der Angebote der Anstalten im Internet immens eingeschränkt. Die öffentlich-rechtlichen Informationsangebote, welche als Allgemeingut definiert werden können und deren Besitz- und Nutzungsansprüche demnach der gesamten deutschen Bevölkerung zugesprochen werden könnten, sind nicht konsequent frei zugänglich oder von bürgerlicher Seite einforderbar. Die bildungsrelevanten und für die öffentliche Meinung bedeutsamen Inhalte wie etwa die tägliche nationale und internationale Nachrichtenberichterstattung werden dementgegen sogar depubliziert und Dokumentationen und weitere Angebote auf Negativlisten gesetzt. Das Gesetz schreibt also, zugunsten fragwürdiger Wettbewerbsargumente im Verhältnis zu den privaten Medienanbietern, unter anderem unmissverständlich vor, dass Inhalte nur noch zeitlich begrenzt anzubieten und danach ganz aus dem Netz zu nehmen sind. In vielen dieser Fälle erhalten Nutzer und Nutzerinnen eine Fehlerseite. Der NDR selbst schreibt am 22.09.2010, dass es „Wahnsinn sei“. „Erst sind öffentlich-rechtliche Journalisten jahrelang damit beschäftigt, Themen zu recherchieren und zu realisieren und dann müssen sie Zeit und Gebühren verschwenden, um sie wieder zu löschen. Der Rundfunkänderungsstaatsvertrag sieht dies vor. Und daher müssen ARD und ZDF ihre Archive im Internet verkleinern. Mehr als eine Million Dokumente sind so schon verschwunden, zum Ärger vieler Gebührenzahler. Die Internet-Nutzer laufen Sturm.“ Und das Medienmagazin Zapp schrieb und berichtete selbst etwa über „die Retter der Archive“, welche mittlerweile diese ebenso nicht mehr frei zugänglich machen dürfen.
Dies hat zufolge, dass das breite politische Publikum keine frei zugänglichen, möglichst objektiv aufbereiteten, Informationen über längere Beobachtungszeiträume abrufen kann. Längere Dossiers zu Policies und hochwertig journalistische Fallbetrachtungen werden kontinuierlich seltener. Dies verleitet zu der Annahme, dass politisch Interessierte nahezu von staatlicher Seite genötigt werden nach anderen Informationsquellen zu suchen, deren Inhalte in der Folge automatisch mit der Staatsräson oder parlamentarisch artikulierten Meinungen divergieren. Alternative Fakten oder dem, was der Honigmann sagt, wird so überhaupt erst der Boden bereitet, weil das bestehende öffentliche Wissensangebot zu kurz, zu starr, zu unattraktiv oder, im Verhältnis gesehen, zu schlecht konsumierbar zur Verfügung gestellt wird.
Neben den historischen Eckpfeilern der deutschen Allgemeinbildung, welche überbetont nahezu täglich in der Medienlandschaft präsent sind, muss nahezu jede Kohorte neu allgemeines Wissen schaffen und kann nur begrenzt auf ältere Erfahrungen aufbauen. Gleichzeitig wird es themenspezifisch Interessierten nahezu unmöglich gemacht ohne größeren Aufwand organisiertes Wissen von staatlicher Seite zu konsumieren. Die Bundeszentrale für politische Bildung und deren Landeszentralen sind eine der wenigen Institutionen, welche eine derartige Wissensvermittlung in Deutschland leisten. Diese sind jedoch unterfinanziert sowie aufgrund zu geringer Werbung weitgehend unbekannt. Ein Äquivalent zu Wikipedia besteht in keiner angemessenen und erwartbaren Weise. Das Ausbleiben zeitgemäßer und moderner staatlicher Wissensvermittlungsleistung in diesem zentralen gesellschaftspolitischen Feld kann demnach als anti-aufklärerisch bezeichnet werden. Der zurzeit diskutierte Kampf gegen „dis-, mis- and no information“ kann bei dieser Pfadentwicklung nicht gewonnen werden. Die Legitimation der Vermittlung von Wissen und Informationen des Staates in einer Medien- und Kundendemokratie muss durch deren uneingeschränkte zeitliche Tiefe, ihre kostenfreie Zugänglichkeit, ressourcenschonende Konsumierbarkeit und ansprechende Aufbereitung geprägt sein. Wobei die Frage nach der Maschinenlesbarkeit und der Open Data-Optimierung öffentlicher Informationen der Medienanstalten an dieser Stelle noch gar nicht gestellt wurde.
Eine freie und umfangreiche Urteilsbildung von Privatpersonen in Deutschland mit möglichst hohem Trade-Off muss ermöglicht werden, damit Phänomene, wie die anwachsende Fehlinformation von Wahlberechtigten, reduziert werden können. Wissenschaftliches, allgemeines und tagespolitisches Wissen scheint noch nicht ausreichend sortiert, such- und findbar sowie barrierefrei zugänglich zu sein – für Mensch als auch für Maschine. Dass gebührenfinanzierte öffentliche Informationen nicht zentralisiert zugänglich gemacht werden dürfen und nur zeitlich befristet abrufbar sind, erscheint aus aufklärerischer und demokratietheoretischer Perspektive ebenso als äußerst zweifelhaft, wie die Fesselung staatlich finanzierter Forschungserkenntnis. Wettbewerbsgründe dürfen zu Kompromissen nötigen, allerdings nicht zu Informationsdefiziten und einer Entschleunigung zivilisatorischer Evolutionsschritte führen.
Dieser Debattenbeitrag ist am 13.08.2018 im „hammelsprung – Magazin für politische Entscheidungen“ erschienen.
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